Die Geste des Unmittelbaren

Rainer Bergmann und seine VERLORENEFORM

 

Rainer Bergmann widmet sich seit 2005 unter dem Titel VERLORENEFORM plastischen Experimenten, die den menschlichen Körper zum Motiv haben. Im Vordergrund steht dabei nicht die Abbildung eines einheitlichen Körpers sondern vielmehr die Reduktion auf verschiedene Fragmente um deren gestalterische Kraft und deren Ausdruckskraft ausloten zu können.

Ein liegender Kopf mit weit aufgerissenem Mund, aus dem die Zunge heraushängt, setzt sich fort in zwei Wülsten, die als weit geöffnete Arme oder auch als gespreizte Beine interpretiert werden können. Ein aus der Liegeposition hochgereckter Kopf mit einem müden aber freudigem Ausdruck scheint in der Ferne jemanden zu erblicken, dem er erwartungsvoll mit dem linken Arm zum Gruß zuwinkt.

Der deformierte Arm korrespondiert mit einer ebenso rohen Form, die als Fragment eines Oberkörpers gesehen werden kann, der es der Figur jedoch nicht ermöglichen würde sich weiter aufzurichten, geschweige denn der entfernten Person näher zu kommen. Auf der einen Seite haben wir es augenscheinlich mitdeformierten Figuren zu tun, die ihrer körperlichen Funktion in wesentlichen Teilen beraubt, mit Makeln behaftet und somit einer ganzheitlichen Kommunikation beraubt sind. Auf der anderen Seite sind die scheinbaren Mängel der Figuren Reduktionen und Bearbeitungen durch die Rainer Bergmann eine ungeheure Konzentration des emotionalen Ausdrucks erreicht. Nicht nur korrespondieren die weit geöffneten Armfragmente mit dem zum schmerz- und sehnsuchtsvollen Schrei geöffneten Mund oder die zerklüftete Oberfläche mit der Hilflosigkeit der Aufmerksamkeitsgeste, ebenso unterstützt und forciert die formale Gestalt den emotionalen Gehalt, der sich dadurch umso unmittelbarer mitteilt.

Gleichwohl sind die Gestaltungen von Rainer Bergmann nicht nur als Ausdruck emotionaler Zustände zu charakterisieren. Die Gestaltungen weisen einen spezifischen Humor auf, bezogen auf die beschriebenen Figuren im Sinne eines Humors, der sich nicht der Schadenfreude bedient, sondern immer die Hoffnung einer Überwindung der eigenen Unzulänglichkeit steckt, schließlich erkennen wir uns in den Figuren doch sehr gut selbst. Vor allem handelt es sich hier um eine Interpretation, die abhängig ist vom Kontext und von der Betrachtungsweise. Der Humor wird umso deutlicher und das Unbehagen löst sich auf, wenn die Figuren als Teile einer Serie von Schwimmern verstanden werden. Plötzlich erweisen sich die grotesken Züge und Fragmente als Körperteile, die über der Wasseroberfläche liegen; der Schrei wird zum Atemzug beim Kraulen, der Gruß zur Armbewegung beim Rückenschwimmen. Darüber hinaus sind die Figuren auch grundlegende Auseinandersetzungen mit den Möglichkeiten einer einfachen konstruktiven Form und deren individueller Gestaltung,die zudem die Grenzen zwischen Figuration und Abstraktion ausloten.

Die Grenze zwischen Figuration und Abstraktion spielt eine wesentliche Rolle für die Wirkung der Plastiken, ohne dass damit ein kunstwissenschaftlicher Diskurs fortgeschrieben wird. Zwar lässt sich ein historischer Ausgangspunkt an der gestischen Abstraktion festmachen, die Arbeiten von Rainer Bergmann damit aber nur unzulänglich deuten. Dieser

Bezug erklärt sich visuell durch die Oberflächenbehandlung seiner Werke, greift aber, aufgrund der künstlerischen Entwicklung von Rainer Bergmann zu kurz. 1943 geboren, studierte er in Stuttgart und Düsseldorf, bevor er sich 1968 in Duisburg niederließ. Zunächst arbeitete er als Bildhauer, vornehmlich im Bereich großformatiger Stahl- und Gipsplastiken, die eher ein abstraktes, organisches und konstruktives Formenrepertoire aufweisen. Durch den Umzug ins Ruhrgebiet entstanden zunehmend narrative Objekte mit regionalen Bezügen, bis er sich schließlich seit den80er Jahren als Maler betätigte. Erst 2005 wandte sich Rainer Bergmann wieder und ausschließlich plastischen Arbeiten und Experimenten zu, die meist im Betongussgefertigt werden. Die aktuellen Arbeiten entstehen damit auf der Basis einer intensiven künstlerischen Auseinandersetzung, in die sowohl unterschiedliche Formensprachen, wie auch malerische und plastische Erfahrungen einfließen.

Wesentlich für das aktuelle Werk von Rainer Bergmann ist die Werkentstehung und der zugrunde liegende experimentelle Prozess. Die Plastiken folgen nicht einer vorher geplanten konzeptuellen Idee, die lediglich umgesetzt wird, sondern werden wesentlich durch die unmittelbare gestische Handlung der künstlerischen Produktion bestimmt. Der experimentelle Charakter dient vor allem dazu einen kreativen Akt in Gang zu setzen, der es ermöglicht, etwas Neues zu erschaffen und erweiterte Ausdrucksmöglichkeiten hervorbringen. Bemerkenswert ist vor allem, dass dieser Prozess den Plastiken als sichtbares Element, gleichsam als formbildende Spur eingeschrieben ist.

Auf die formende Geste als künstlerische Handlung verweisen schon einige Titel der Plastiken, wie GESTALTEN, VERFLOCHTEN, FIGUR VERDREHT usf., die auf den unmittelbaren Prozess der Formherstellung als gestische Handlung verweisen. Des weiteren

lässt Rainer Bergmann die Betrachter seine Gestik der Herstellung nachvollziehen, beispielsweise wenn die Abdrücke seiner Finger oder Hände sichtbar bleiben. Und schließlich sind die Spuren nicht nur Zeichen des Herstellungsprozesses, vielmehr konstituieren sie erst das Objekt. Sie evozieren eine Art doppelter Optik:Einerseits sehen wir die Abdrücke der Hand andererseits bringen diese einen Teil der Objektform, z.B. die eingefallenen Wangen, hervor. Die Zeichen des Herstellungsprozesses sind gleichzeitig die des plastischen Objekts und beide nicht voneinander zu trennen. Die Figuren sind von einer rohen und kraftvollen, aber gleichsam handschmeichlerischen Beschaffenheit. Deren Beschaffenheit fordert geradezu dazu auf, Hand an sie zu legen. Sie reizen via Sehsinn unsere taktilen Sinne, weil ihr Formenrepertoire aus dem unmittelbaren Bearbeiten mit der Hand entstanden ist.

Gleichzeitig aber müssen wir die Spuren der Doppeldeutigkeit als Produktionsgestik dem Abdruck und als Zeichen des Objekts- die Wange eines Kopfes- entziffern. Dies macht die Rezeption der Werke von Rainer Bergmann so spannend und vielschichtig, sprechen sie doch über ihre Visualität gleichzeitig sowohl unser sinnliches wie unser rationales Vermögen an, deren Zusammenspiel erst das Entziffern und Begreifen der Plastiken ermöglicht.

Verstärkt wird dies durch die Körperlichkeit der Objekte selbst: durch ihr gegebenen plastisches Volumen, durch ihre oftmals vertikale oder horizontale Ausrichtung sowie ihre flankierenden Formenelemente, die wir als Figur und Elemente, wie Rumpf, Kopf, Arme oder Beine verstehen und schließlich durch die Addition verschiedener Formen, die durch ihre Roheit, ihre Ecken, Kanten sowie Wülste eine vielfältige, dynamisch gestaltete Oberfläche erhalten und dadurch höchst lebendig erscheinen.

Diese Lebendigkeit der Figuren spiegelt den Prozesscharakter, der mithin nicht nur für den Herstellungsprozess, sondern gleichermaßen für den Ausdruck gilt und damit auf eine wesentliche Bedeutungsebene des Werks von Rainer Bergmann weist. Seine Arbeiten spielen mit der Dichotomie von Kunstwerk und Kunstprozess. Während ein Werk gemeinhin als geschlossen und vollendet charakterisiert wird, ist ein Prozess offen und unbestimmt, eher an einem Weg als einem Ziel orientiert und somit offen für verschiedene Betrachtungsweisen wie Interpretationen. In dem Rainer Bergmann bei der Herstellung einen prozessualen Charakter verfolgt und für uns sichtbar macht, changieren seine Plastiken zwischen diesen beiden Polen. Einerseits handelt es sich um statische Objekte, die sich nicht verändern, andererseits sind sie offen für verschiedene Sichtweisen und Interpretationen wie das anfangs aufgeführte Beispiel der Schwimmer deutlich machte und bilden so erst im aktiven Vorgang des Betrachters ihre vielschichtigen Bedeutungsebenen heraus.

Rainer Bergmann zielt damit auch auf die Frage der Identität. Indem die Plastiken den Prozess der Formentstehung und ihrer Bedeutungszuschreibung thematisieren, veranschaulichen sie Identität nicht als a priori gegebenes, sondern als prozessuale Kategorie, die sich in einer permanenten Entwicklung vollzieht und zahlreichen Veränderungen unterliegt. Sie ist sowohl abhängig vom jeweiligen Kontext als auch vom augenblicklichen Blickwinkel. Die verlorenen Formen sind somit eine Metapher für die andauernde Suche nach der künstlerischen wie der eigenen, nach der objektiven wie der subjektiven Identität. Der Verlust der Form auch im eigentlichen Sinn der Gussform, die zerstört werden muss, damit die Plastik sichtbar wird erweist sich hier als Gewinn.

Erik Schönenberg, Wuppertal 2009